Gestern, mit all dem Schnee, fielen nicht nur Flocken, sondern auch diese kleine Geschichte trudelte so ganz langsam in meine Kladde.
Die weiße Alchimie des Schnees
Sanft und gleichmäßig fielen die weißen Flocken und deckten das graue Land zu. Das weiße Tuch wurde dicker und dicker. Der Mann, der schon seit einiger Zeit sich nur noch mühsam fortbewegte, sank in die Knie. Nur mit großer Willenskraft richtete er den Oberkörper wieder auf und kroch auf allen Vieren zu der kleinen Hütte, die keine zehn Meter von ihm entfernt war. Aus deren Inneren floss ein weicher, goldener Schimmer, wie von einer Kerze oder einem kleinen Feuer. Den Blick starr darauf gerichtet robbte der Mann weiter. Eine Türe gab es nicht, nur einen schmalen Eingang. Doch den zu erreichen bedeutete, endlich im Trockenen zu sein, ein bisschen weniger Kälte und vielleicht sogar menschliche Gesellschaft. Denn woher sollte das Licht kommen, wenn nicht von Menschen? Nun war Robert zwar normalerweise kein Mann, der Gesellschaft suchte. Aber im Moment war ihm alles gleich. Selbst das Robben, dieser letzte Versuch, wenigstens ein bisschen mehr Wärme zu finden, war eher eine instinktive Handlung seines Körpers als die Reaktion auf einen willentlich gefassten Entschluss. Stunden über Stunden war er gelaufen, ein Problem wälzend, nicht achtend der Steraßen, die er ging, oder auf das Wetter oder gar die Tageszeit. Es hatte lange gedauert, bis er bemerkte, dass es dunkel geworden war und angefangen hatte zu schneien. Da glaubte er noch, er brauche einfach nur umzukehren, um bald wieder in seiner Wohnung zu sein. Doch er hatte sich dem Stadtrand weiter entfernt, als ihm bewusst geworden war. Durch den Schleier der fallenden Schneeflocken war nichts auszumachen. Als habe sich Nebel auf das Land gesenkt, so wirkte alles weich, weiß und gleich. Keine Stelle unterschied sich von einer anderen, so wollte es ihm scheinen. Anfangs war Robert einfach weiter gelaufen, zum einen in der Hoffnung, irgendwann doch ein Haus oder gar ein Dorf zu finden, zum anderen aber auch aus der dumpfen Erinnerung heraus, dass es nicht gut sei, stehen zu bleiben oder gar sich hinzusetzen. Doch irgendwann hatten ihn die Kräfte verlassen. Nun war jeder Schritt die Folge einer bewussten Entscheidung. Aber seltsam, diese weiße Weichheit legte sich nicht nur auf seinen Körper sondern auch auf sein Herz und seine Seele. Warum sollt er überhaupt weiterlaufen? Wie wundervoll weich müsste es doch sein, wenn er sich einfach auf den Boden legen würde. Irgendwann stolperte er über seine eigenen Füße und sank in die Knie. Im gleichen Moment entdeckte er die Hütte und den Schimmer des goldenen Lichtes. Nun hatte er wenigstens ein Ziel. Tief aufatmend zog er sich den letzten Meter in das Innere der Hütte. Für einen Moment schloss er die Augen und überließ sich ganz einem Gefühl tiefer Ruhe und Geborgenheit. Dann hörte er plötzlich leises Gemurmel und als er die Augen öffnete, sah er vor sich mehrere Gestalten um ein kleines Feuer. Es waren seltsame Figuren, Wesen, mit denen er normalerweise nichts zu tun haben wollte. Da war eine alte Frau mit wirren weißen Haaren, einem zerlumpten Kleid und einem ausgefransten Tuch, das sie sich um die Schultern geschlungen hatte. Daneben ein alter Mann, eher einer Vogelscheuche ähnelnd als einem Menschen – einer Vogelscheuche mit einem zahnlosen Mund. Der junge Mann, der neben dem alten hockte, wollte Robert wie einer der Drogensüchtigen erscheinen, um die er sonst immer einen großen Bogen machte. Und das junge Mädchen – das war bestimmt eine Nutte, so wie die gekleidet war. Doch Robert wandte sich nicht voller Verachtung ab, sondern beobachtete die Vier voller Faszination. Anscheinend bemerkten sie ihn nicht, denn sie unterhielten sich leise. Es dauerte eine ganze Weile, bis Robert die Worte verstehen konnte. „Wotan, du bist dran. Nun erzähle du“, sagte das junge Weib zu der zahnlosen Vogelscheuche. Und dieser Wotan begann mit einer warmen, dunklen Stimme, die ganz und gar nicht zu der seltsamen Gestalt passen wollte, und erzählte ein Märchen. Robert, der sich weder aus Romanen noch Erzählungen je etwas gemacht hatte, für den es nie etwas anderes als seine wissenschaftlichen Forschungen gegeben hatte, der hörte zu, lauschte verzückt dieser warmen, tragenden Männerstimme. Als sie verklang, begann die alte Frau. Ihre Stimme klang weich und wollte ebenfalls nicht zu ihrer Erscheinung passen. Auch sie erzählte ein Märchen. Jeder der Vier tat dies, dann begann wieder der alte Mann. Wie viele Geschichten er da zu hören bekam, hätte Robert nicht zu sagen gewusst. Aber er spürte, wie es ihm am ganzen Körper warm wurde, wie das Licht immer heller wurde und er sich so unbeschreiblich wohl fühlte, wie seit Kindertagen nicht mehr. Endlich schienen den Vieren die Geschichten auszugehen. „Genug für heute“, sagte der Alte, den sie Wotan nannten. Dann blickte er Robert direkt an. „Wir gehen jetzt. Doch du musst zurück, mein Lieber“, sprach er Robert an. „Du hast noch eine Aufgabe. Und berichte von uns. Erzähle den Menschen, was du in diesen Stunden erlebt hast.“ Dann nahm Wotan seinen zerlumpten Umhang ab und deckte Robert damit zu.
Es war endlich heller Morgen, der Schnee lag im Sonnenschein eines wundervollen Wintertages. Das Räumfahrzeug arbeitete sich bis zu einer Hütte vor, in der Streugut für die nahe Straße gelagert war. „Ist das ein Winter!“, meinte der Fahrer zu seinem Begleiter. „Ja. Aber sieht es nicht schön aus?“ „Geschmackssache. – Hoppla, wer liegt denn hier? He, Tom, pack mal mit an.“ Tom und der Fahrer trugen die Gestalt zu dem Fahrzeug und brachten den bewusstlosen Robert zur nächsten Klinik. „Lebt der überhaupt noch?“, fragte Tom den herbeieilenden Arzt. „Ja. Erstaunlicherweise. Wie lange mag er da gelegen haben? – Egal“, unterbrach er sich und erteilte dann eine Reihe von Befehlen. Robert dämmerte still vor sich hin. Er glaubte immer noch, Wotans Stimme zu hören. Als er die Augen aufschlug, blendete ihn das Licht und er schloss sie sogleich wieder. Es sollte lange dauern, bis er sich wieder an das grelle Licht elektrischer Lampen gewöhnt hatte. Fast ebenso lange benötigte er, bis ihn die Stimmen der Menschen nicht zusammenzucken ließen. Doch die Stimmen der Vier in der Hütte hatte er immer noch im Ohr, den warmen dunklen Klang des Mannes, das weiche Organ der alten Frau. Vor allem aber hörte er immer wieder die Märchen. Und als es ihm wieder so gut ging, dass er sich aufsetzen durfte, da bat er als erstes um Stift und Papier, und notierte die wundervollen Märchen, die er in jener Nacht gehört hatte. Robert war immer noch der stille Mann, als den man ihn auch vorher gekannt hatte. Er übte immer noch seinen Beruf als Forscher aus. Aber an einigen Tagen in jedem Monat war er ein anderer: da ging er in Häuser zu Kindern und alten Menschen und las ihnen die Märchen vor, von denen er sagte, sie hätten sein Leben verändert.
Dann wünsche ich uns allen eine geheimnisvolle Wintersonnenwende, eine besinnliche Weihnachtszeit und viele Erkenntnisse - in der tiefen Stille des Schnees.