Vorhin fiel mir die folgende Geschichte einfach in den Schoß. Es hat sicherlich damit zu tun, dass ich letzte Woche in einer Sitzung etwas Ähnliches für eine Klientin in einer schamanischen Reise geholt habe. Ich finde die Bilder so wunderschön und so stark, dass ich dies mit euch teilen wollte. Irgendwann werde ich diese Geschichte auch in meinen nächsten Erzählband mit aufnehmen. Aber das wird noch dauern. Deshalb also schon mal vorab, sozusagen als Leseprobe:
Das Land der Klarheit
Anthea litt. Ihre Beziehung war zusammengebrochen, sie hatte ihren Job verloren und nun sah es so aus, als müsse sie auch ihre Wohnung verlassen. Nicht, dass sie nun am Hungertuch nagen müsse – Geld hatte sie noch genug – und schließlich war sie gesund, hatte starke Arme und durchaus auch eine Reihe von Fähigkeiten. Aber ganz gleich, was sie sich überlegte oder versuchte sich vorzustellen, nichts wollte ihr zusagen. Am liebsten hätte sie den alten Zustand zurückgehabt. Doch das ging nicht, sie wusste es ja selbst. Und eine ganz leise Stimme in ihr flüsterte: „Das wolltest du doch überhaupt nicht. Du hast doch um Veränderungen gebeten.“ Ja, stimmte, das hatte sie. Aber doch nicht so… Sie seufzte. Mehrere Tage vergingen und mit den Tagen wechselten ihre Stimmungen und die Wünsche, die sie für die Zukunft hatte. An einem Tag wollte sie den supertollen Job, am nächsten eine neue Beziehung, am dritten einfach nur auf eine Insel, ausschlafen und entspannen und Sonne tanken. Und irgendwann fragte sie sich: ‚Ja, was will ich eigentlich?’ Sie wusste es nicht, und das war eigentlich das Schlimmste. Sobald sie glaubte, sich für eines entschieden zu haben, kam der Gedanke, etwas anderes sei bestimmt noch viel besser. Weitere Tage vergingen. Um auf andere Gedanken zu kommen, oder sie wenigstens zu lüften – wie sie das bei sich nannte – ging sie nach draußen. Es war ein klarer, kalter Herbsttag. Die Bäume waren in die schönsten Farben getaucht, die Sonne brachte das Rot, Gelb und Gold der Blätter zum Leuchten. Anfangs merkte Anthea nichts davon, weil sie immer noch in ihrem Gedankenkarussell gefangen war. Doch nach einiger Zeit blickte sie hoch, ließ sich von dem Farbenrausch verzaubern und nun ging sie tief atmend weiter. Eine kleine Bank, die noch nicht zu ihrem Winterplatz gebracht worden war, lockte sie. Sie stand unter einer mächtigen Buche und mitten in der Sonne, die immer noch wärmte. Nachdem sich Anthea gesetzt hatte, träumte sie in das Blau des Himmels. Ein paar wenige Vögel sangen noch ihr Lied, fast so, als sei immer noch Sommer. Sonst drang kaum ein Laut hierhin. Auf einmal erschien ein weißes Pferd vor Antheas Bank. Sein Fell leuchtete fast wie Silber und seine blauen Augen sahen die junge Frau aufmerksam an. Es dauerte eine ganze Weile, bis Anthea mit Verwunderung bemerkte, dass mitten auf der Stirn des Pferdes ein Horn wuchs. Lang und gedreht, wie von einem Künstler gedrechselt. ‚Ein Einhorn’, schoss es ihr durch den Kopf. Dann: ‚Blödsinn, das gibt es nicht.’ Doch das Pferd blieb weiterhin vor ihr stehen, stumm zwar aber mit aufmerksamen Augen. Und das Horn blieb, soviel Anthea auch zwinkern mochte. Nach einer Weile erschien ein weiteres Wesen: eine Frau in einem langen Kleid mit schwarzen Haaren und einem seltsamen Stab in der Hand. Auch sie blieb vor Anthea stehen. Nun hielt die junge Frau es nicht mehr aus, sie wollte, nein sie musste wissen, was das zu bedeuten hatte. „Wer seid ihr?“, fragte sie. „Wir können dich ins Land der Klarheit führen“, meinte die Frau, ohne Antheas Frage zu beantworten. „Es ist nur deine Entscheidung, ob du das möchtest. Wolltest du nicht Klarheit?“, fuhr sie fort. „Ja, ich glaube, das könnte ich gut gebrauchen. Alles scheint mir wie vernebelt.“ „Gut. Dann folge uns, wir führen dich.“ „Aber wer seid ihr?“ Die Frau lächelte. „Ist das so wichtig? – Kannst du uns nicht vertrauen – auch wenn du nicht weißt, wer wir sind?“ „Doch, ich vertraue euch. Aber ich hätte halt gerne gewusst, wer ihr seid.“ „Du weißt es doch schon längst. Alles andere ist nur Futter für dein Gehirn.“ Anthea seufzte schwer. Das hatte ihre Freundin auch immer gesagt, wenn sie mal wieder nach dem Warum fragte. Nun gut, vielleicht würde sie ja im Laufe der nächsten Zeit herausfinden, wer die beiden waren. Sie stand von der Bank auf und nickte der seltsamen Frau zu. „Komm, wir müssen dort durch diese Wand.“ Sie wies auf eine gläserne Mauer, die Anthea vorher nicht gesehen hatte. Etwas zweifelnd blickte sie diese schwarzhaarige Frau an, von der sie inzwischen vermutete, dass sie eine Fee war. Sie fragte sich, wie sie da hindurchgelangen sollte. Doch die Fee hielt nur ihren Stab hoch und schritt einfach weiter, so als sei da gar keine Wand, das Einhorn folgte ihr und nun traute sich auch Anthea. Sie spürte nichts und fragte sich schon, ob sie die Wand nur geträumt hätte. Doch als sie sich umdrehte, bemerkte sie wieder die gläserne Mauer. Der Park, in dem sie noch zuvor gesessen hatte, lag nun auf der anderen Seite der Mauer. Plötzlich taten sich vor ihnen mehrere Wege auf. Die Fee hielt an und drehte sich nun zu Anthea. „Dies sind unterschiedliche Wege deiner Zukunft. Du kannst hier jeden Weg gehen und wieder zurückkehren. Hier gibt es kein Wenn – Dann wie bei euch. Es geht nicht darum, welcher dir besser erscheint oder wohin er führt. Es geht nur darum, wie du dich auf diesem Weg fühlst. Anders als in eurer Welt, wirst du ganz klar fühlen, wie es dir auf diesem Weg geht. Am Ende befindet sich ein Zwerg, dem gibst du deine Gefühle, damit er sie hüten und bewahren kann.“ „Kommst du nicht mit?“ „Nein, ich warte hier auf dich, aber das Einhorn wird dich begleiten.“ Der erste Weg war der einer Partnerschaft. Schon bald merkte Anthea, wie sie Zweifel befielen. War es wirklich richtig, einen Partner zu wünschen? Sollte sie nicht eigentlich alles in sich tragen. Dann spürte sie Sehnsucht nach starken Armen. Im nächsten Moment Angst, sie könne ihn verlieren, wenn sie stritten oder sie ihre Meinung sagte. Dann wieder verspürte sie das Bedürfnis, einem anderen Menschen ihre Liebe zu zeigen. Kein Gedanke störte sie dabei, sie fühlte nur. Und jedes Gefühl einzeln und klar getrennt von den anderen. Am Ende des Weges überreichte sie dem Zwerg ihre Gabe und kehrte zum Ausgangspunkt zurück. Der nächste Weg war der eines Berufes. Es kamen fast die gleichen Gefühle, Zweifel und Ängste. Sie hatten jetzt andere Namen, aber die Gefühle ähnelten den anderen so sehr, dass Anthea sie kaum unterscheiden konnte. Auch diese übergab sie dem Zwerg. Ein dritter Weg zeigte sich. Hier machte sie einfach Urlaub. Ach ja, das hatte sie schon lange gewollt. Doch nun meldeten sich Sorgen – habe ich auch genug Geld – Zweifel – steht mir das zu – und ein schlechtes Gewissen. Auch diese Gefühle übergab sie dem Zwerg. Als sie dieses Mal zurückkehrte, lächelte die Fee. „Es gibt noch einen vierten Weg. Dort wählst du einfach nur, welche Gefühle du in dein Leben einladen willst. Alles andere entscheidest nicht du. Wenn du dazu bereit bist, dann gehe diesen Weg.“ Anthea erblickte nun einen gewundenen Pfad. Anders als bei den anderen, konnte sie hier nicht sehen, wohin es ging. Aber sie wählte zu Beginn: ich möchte Freude spüren und ausstrahlen, ich möchte Liebe spüren und ausstrahlen. Ich möchte die Sehnsucht meines Herzens leben und mit anderen teilen. Und sie fühlte Freude, sie fühlte Liebe und die Begeisterung, wenn man die Leidenschaft seines Herzens lebt. Sie konnte weder erkennen, was es war, noch ob und wer sie bei diesem Weg begleitete. Aber es fühlte sich wundervoll an. Auch dies übergab sie dem Zwerg. „Und nun?“, fragte sie die Fee. „Jetzt kannst du wieder in euer Leben zurückkehren. Immer wenn du dir unsicher bist, kannst du hier in dieses Land zurückkehren.“ Damit waren die Fee und das Einhorn verschwunden und Anthea fand sich auf ihrer Bank wieder. Sie wusste nicht genau, was da geschehen war, aber es war etwas geschehen. Es hatte sich etwas verändert. Sie wusste nun mit absoluter Klarheit, was sie zu tun hatte. Und – sollte sie je diese Klarheit verlieren – konnte sie jederzeit in dieses wundervolle Land zurückkehren.
wie schön, dass sie euch gefällt. Die Arbeit, die ich mit der Patientin machte, war tief berührend. Ich hatte ihr in einer schamanischen Reise die Hinweise geholt, das Einhorn, die Fee und den Namen des Landes und sie reiste anschließend dort hin, um Probleme zu klären. Wie sie mir nachher gestand, hat sie noch nie so klar einzelne Gefühle erlebt, wie in jener Reise.
Da entstand schon die Idee, dass das ein wundervolles Thema für eine Geschichte sei. Ich liebe solche Metaphern - ganz egal ob in einer Reise oder als Geschichte.
Und ja, Johanna-Merete, wenn du angibst, dass sie von mir ist, kannst du sie gerne weitergeben. Vielleicht hilft sie ja auch noch anderen Menschen.
Ich möchte hier mal Tom Cowan zitieren (das ist der, bei dem ich keltischen Schamanismus gelernt habe): Probiert es aus, und wenn ihr feststellt, dass es funktioniert, dann gebt es weiter.
Wie soll Neues nachfließen, wenn ich so etwas festhalten würde?
In diesem Sinne liebe Grüße und eine feste Umarmung
Vielen Dank liebe Ursula Apfelbüte... (Klingt wie der Name einer Fee oder Elfe)
...für diese wundervolle Geschichte. Ich habe sie mir gleich ausgedruckt und werde sie hier in unserer WG zum Lesen auslegen. Genau diesen Anschubser braucht es hier gerade.