Zitate-Threads gibt es ja schon einige - aber ich wollte gerne einen nur für Gedichte haben - so ein bißchen wie ein Poesiealbum. Hier sind schon mal ein paar von meinen Lieblingsgedichten - ich bin gespannt auf eure.
Komm, sage mir, was du für Sorgen hast
Es zwitschert eine Lerche im Kamin, Wenn du sie hörst. Ein jeder Schutzmann in Berlin Verhaftet dich, wenn du ihn störst.
Im Faltenwurfe einer Decke Klagt ein Gesicht, Wenn du es siehst. Der Posten im Gefängnis schießt, Wenn du als kleiner Sträfling ihm entfliehst. Ich tät es nicht.
In eines Holzes Duft Lebt fernes Land. Gebirge schreiten durch die blaue Luft. Ein Windhauch streicht wie Mutter deine Hand. Und eine Speise schmeckt nach Kindersand.
Die Erde hat ein freundliches Gesicht, So groß, daß man's von weitem nur erfaßt. Komm, sage mir, was du für Sorgen hast. Reich willst du werden? - Warum bist du's nicht?
Joachim Ringelnatz
Als dein Gesicht vor mir sich hob und aufging über meinem Leben, begriff ich erst: Erbärmlich arm war ich. Nichts konnte ich dir geben. Du schenktest mir den Wald, den Fluß, das Meer in immer neuen Farben. Durch dich erst war die Welt für mich gemacht aus Regenbogengarben. Jetzt hab ich Angst, es könnte sein, der Sonnenaufgang geht zu Ende, die Freudentränen trocknen ein. Jetzt hab ich Angst. Und doch, ich wende mich nicht dagegen, weil ich weiß: Ich hab aus Liebe Angst. – Ich liebe. Ich gäbe, gegen meine Art, was drum, wenn diese Angst mir bliebe. Von Angst bin ich gepackt. Von Angst, wie schnell solch Augenblick vorüberweht: Für mich sind alle Farben tot, wenn dein Gesicht mir untergeht...
Jewgeni Jewtuschenko
Der Engel vor dem Garten Eden Saß trauernd, tief die Stirn geneigt, Als Luzifer, mit ihm zu reden, Sich flügelnd überm Abgrund zeigt.
Er, dem vom Zweifeln und Verneinen Nur Finsternis im Innern blieb, Sieht heißen Blickes auf den Reinen,. Der bangt um die, die Gott vertrieb.
"Verzeih", spricht er, "du wirst nicht fassen, Warum ich suche deine Näh. Jetzt muß ich nicht mehr alles hassen, Was Gott erschuf - da ich dich seh."
Die Woge wogt, es wallt die Quelle, Es wallt die Qualle in der Welle, Wir aber wallen durch die Welt, weil nur das Wallen und gefällt. Wir tuns nicht, weil wir wallen sollen, wir tun es, weil wir wallen wollen. Wer nur der Tugend willen wallt, kennt nicht des Wallens Allgewalt. Sie wallt und waltet über allen, die nur des Wallens willen wallen.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, Die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, Aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, Und ich kreise jahrtausendelang; Und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm Oder ein großer Gesang
Rainer Maria Rilke
Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten, Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen, das ist außen. So ergreifet ohne Säumnis Heilig öffentlich Geheimnis.
Freuet euch des wahren Scheins, Euch des ernsten Spieles: Kein Lebendiges ist ein Eins, Immer ists ein Vieles.
Danke für all eure Beiträge! Auf wundersame Weise war in jedem etwas drin, was mir grade guttat zu hören ...
Hier ist mal ein bißchen was anderes
Die Ballade vom blutigen Bomme
Hochverehrtes publikum Werft uns nicht die bude um Wenn wir albernes berichten Denn die albernsten Geschichten Macht der liebe gott persönlich Ich verbleibe ganz gewöhnlich wenn ich auf den tod von Bomme Meinem freund zu sprechen komme
Möge ihnen nie geschehn Was sie hier in bildern sehn.
Zur beweisaufnahme hatte Man die blutige krawatte Keine spur mehr von der beute Auf dem flur sogar die leute Horchen was nach außen dringt Denn der angeklagte bringt Das gericht zum männchenmachen Und das publikum zum lachen
Seht die herren vom gericht Schätzt man offensichtlich nicht.
Eisentür und eisenbett Dicht daneben das klosett Und der wärter freut sich sehr Kennt den mann von früher her Bomme fühlt sich gleich zu haus Ruht von seiner arbeit aus Auch ein reicher mann hat ruh Hält den sarg von innen zu
Jetzt geht Bomme dieser mann Und sein reichtum nichts mehr an
Sagt der wärter: grüß dich mann Lass dirs gut gehn – denk daran Wärter sieht auch mal vorbei Mach mir keine schererei Essen kriegst du nicht zu knapp Bomme denn dein kopf muss ab Bomme ist schon sehr gespannt Und malt männchen an die wand
Nein hier hilft kein daumenfalten Bomme muss den kopf hinhalten
Bomme ist noch nicht bereit Für abendmahl und ewigkeit Kommt der pastor und erzählt Wie sich ein verdammter quält Wie er große tränen weint Und sich wälzet – Bomme meint: Das ist alles intressant Und mir irgendwie bekannt
Doch was weiß ein frommer christ Wie dem mann zumute ist
Auf dem hof wird holz gehauen Bomme hilft das fallbeil bauen Und er lässt sich dabei zeit Schließlich ist es doch soweit Dass es hoch und heilig ragt Bomme sieht es an und sagt: Das ist schärfer als faschismus Und probiert den mechanismus
Wenn die schwere klinge fällt Spürt er dass sie recht behält
Aufstehn kurz vor morgengrauen Das schlägt Bomme ins verdauen Und da friert er – reibt die hände Konzentriert sich auf das ende Möchte gar nicht so sehr beten Lieber schnell aufs klo austreten Doch dann denkt er: einerlei Das geht sowieso vorbei
Von zwei peinlichen verfahren Kann er eins am andern sparen
Wäre mutter noch am leben Würde es auch tränen geben Aber so bleibt alles sachlich Bomme wird ganz amtlich-fachlich Ausgestrichen aus der liste Und gelegt in eine kiste Nur ein sträfl ing seufzt dazwischen Denn er muss das blut aufwischen
ich entschuldige mich bei allen, die nicht Englisch können - doch ich habe noch keine Übersetzung gefunden, die die Energie dieses Gedichtes von Rudyard Kipling auf eine Weise überträgt, die ich als passend empfinde.
If
If you can keep your head when all about you Are losing theirs and blaming it on you; If you can trust yourself when all men doubt you, But make allowance for their doubting too; If you can wait and not be tired by waiting, Or, being lied about, don't deal in lies, Or, being hated, don't give way to hating, And yet don't look too good, nor talk too wise;
If you can dream - and not make dreams your master; If you can think - and not make thoughts your aim; If you can meet with triumph and disaster And treat those two imposters just the same; If you can bear to hear the truth you've spoken Twisted by knaves to make a trap for fools, Or watch the things you gave your life to broken, And stoop and build 'em up with wornout tools;
If you can make one heap of all your winnings And risk it on one turn of pitch-and-toss, And lose, and start again at your beginnings And never breath a word about your loss; If you can force your heart and nerve and sinew To serve your turn long after they are gone, And so hold on when there is nothing in you Except the Will which says to them: "Hold on";
If you can talk with crowds and keep your virtue, Or walk with kings - nor lose the common touch; If neither foes nor loving friends can hurt you; If all men count with you, but none too much; If you can fill the unforgiving minute With sixty seconds' worth of distance run - Yours is the Earth and everything that's in it, And - which is more - you'll be a Man my son!
»Zeig mir«, sprach zu mir ein Dämon, »zeig mir das Symbol des Menschen, und ich will dich ziehen lassen.« Ich darauf, mir meine schwarzen Stiefel von den Zehen ziehend, sprach: »Dies, Dämon, ist des Menschen schauerlich Symbol; ein Fuß aus grobem Leder, nicht Natur mehr, doch auch noch nicht Geist geworden; eine Wanderform vom Tierfuß zu Merkurs geflügelter Sohle.« Als ein Bildnis des Gelächters stand ich da, ein neuer Heiliger. Doch der Dämon, unbestimmbar seufzend, bückte sich und schrieb mit seinem Finger auf die Erde.
In der Beutelschneidergasse liebt man keine allzu helle Sonne. Doch das heißt nicht, daß man schlechterdings das Licht etwa scheue oder hasse - Nein! Ich meine grelle Sonne! - und empfindet trüberweise überhelle, überheiße Sommertage nicht als Wonne, sondern Plage. Denn die blasse Beutelschneidergasse liegt am Rand der Tageszeiten in den Breiten alles blauen, halben, ungenauen Lichts; liegt - im halb und halben Nichts - zwischen Menschen und Dämonen. Und die Wesen, die da wohnen, sind zutiefst verwandt mit beiden.
Manche Gedichte liebe ich nicht nur wegen ihres Inhalts sondern auch wegen der ihnen innewohnenden Musik. Eines, das ich besonders mag ist folgendes – ich gebe auch eine deutsche Übersetzung dazu, wohl wissend, dass diese nicht ans Original heranreichen kann – und ich setze nur die erste und die letzte Strophe hierhin:
The Cloud
I bring fresh showers for the thirsting flowers, From the sea and the streams; I bear light shade for the leaves when laid In their noonday dreams. From my wings are shaken the dews that waken The sweet buds every one, When rocked to rest on their mother’s breast, As she dances about the sun. I wield the flail of the lashing hail, And whiten the green plains under, And then again I dissolve it in rain, And laugh as I pass in Thunder.
…
I am the daughter of Earth and Water, And the nursling of the Sky; I pass through the pores of the ocean and shores; I change, but I cannot die. For after the rain when with never a stain The pavilion of Heaven is bare, And the winds and sunbeams with their convex gleams Build up the blue dome of air, I silently laugh at my own cenotaph, And out of the caverns of rain, Like a child from the womb, like a ghost from the tomb, I arise and unbuild it again.
Percy Bysshe Shelley
Die Wolke
Ich bring frische Schauer für der Blumen Dauer Von den Flüssen, vom Meer; Ich trag Schatten sacht all der Blätter Pracht In den Mittagstraum her. Ich schüttle aus Schwingen Tautropfen, die bringen Süßen Knospen Glanz Wenn im Schlaf sie wiegt ihre Mutter, die fliegt Um die Sonne im Tanz. Ich schlage mit peitschendem Flegel von Hagel Und färb weiß der Ebenen Grün Dann mach ich ihn wieder zu Regen und lache Donnernd im Vorüberziehn.
…
Ich bin das Kind von Wasser und Wind Ziehtochter von Himmel und Licht Ich trinke an Brüsten von Meeren und Küsten; Mich wandelnd, sterbe ich nicht. Dann, wenn nach dem Regen ohn alle Flecken Himmels Blau die Erde ruft Und der Himmel und Sonne schimmernd in Wonne Errichten die Kuppel aus Luft Lach ich schweigend, aus eigenem Grabmal steigend Und aus Regens Höhle und Grab Wie das Tier aus dem Schleim, wie das Blatt aus dem Keim Heb ich mich und trags wieder ab.
Wer das gesamte Gedicht lesen möchte – es ist sicher im Internet zu finden. Insgesamt sind es sechs solcher Strophen. Mir gefällt die letzte am besten.