das folgende ist kein Channeling, sondern ein Artikel des indianischen Autors Wilfred Peletier, in dem er über seine Erfahrungen und Gefühle in der "Muggle"-Welt (er nennt es die "Filmwelt") einerseits und bei seinen eigenen Leuten andererseits berichtet. Ich finde den Text sehr schön, weil er eine Ahnung davon vermittelt, wie Gemeinschaftsleben aussehen könnte, und was es bedeutet, wirklich "im Fluß" zu leben. Das Buch, aus dem er entnommen ist, enthält noch weitere Selbstdarstellungen heutiger "native Americans" sowie sehr schöne Fotos von ihnen. (Kann ich leider nicht hier reinstellen, da ich keinen Scanner habe. Aber falls ihr das Buch mal irgendwosehr - Reinschauen lohnt sich!)
Liebe Grüße Silverwings
Leben in zwei Welten[/size]
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Wilfred Peletier
Es war, als wäre ich aus einem Nebel, wo man nichts sehen konnte, ins helle Sonnenlicht herausgekommen, wo ich alles ganz klar erkannte; aus einer Scheinwelt in die Wirklichkeit, das ist es, was ich meine. Weißt du, es gab eine Zeit, da ging ich ziemlich regelmäßig in die Kirche, ich ging zu politischen Versammlungen, Vorträgen und so. Ich glaube, ich war ziemlich ernsthaft dabei – ich wollte lernen. Wenn ich schon hinging, dann paßte ich auch auf. Ich hörte zu. Und ich lernte tatsächlich eine Menge auf dem Gebiet, das man vielleicht „große Ideen“, „weltbewegende Gedanken“ und so weiter nennen würde – Philosophie. Aber selbst das, so entdeckte ich mit der Zeit, selbst das ist zum größten Teil bloßes Gefasel. So stand ich mit kaum dreißig Jahren ohne jede Orientierung da, ich stolperte in einem Nebel von Halbwahrheiten und Lügen herum. Ich wußte das zwar, aber ich wußte nicht, was ich dagegen unternehmen sollte, welche Richtung nehmen, um einen Ausweg zu finden. Und dann kam ich eines Tages – zack! bum! – in die Wirklichkeit. Es klingt wahrscheinlich verrückt, aber es passierte nichts weiter, als daß ich einen Löwenzahn „sah“. Da stand ich nun, ein Mann mittleren Alters, der sein ganzes Leben lang von Löwenzahn umgeben gewesen war. Und plötzlich sah ich einen, und es gab nichts zwischen mir und diesem Löwenzahn, ich meine: keine Klassifizierung, keine Normen, keine Worte – nicht einmal das Wort „Löwenzahn“. Nichts. Und dieser Löwenzahn war nicht einfach nur so ein Ding, eines von Millionen gelber Dinger, die leuchteten, hübsch und dabei sehr gewöhnlich waren. Dieser Löwenzahn war ein Wesen, das mich vollkommen anerkannte und einschloß. Ich hatte das Gefühl, als stünde ich in der Mitte der Sonne, und diese kühlen gelben Blütenblätter gingen von meine Füßen aus für immer weit in die Ferne.
Ich habe gerade gesagt, daß ich zum ersten Mal einen Löwenzahn sah. Aber in Wirklichkeit war es nicht das erste Mal. Das kriegte ich auch mit, in dieser Erfahrung blitzte nämlich eine Erinnerung auf – kein „Wann“ oder „Wo“, nur eine Ahnung -, jedenfalls wußte ich plötzlich, daß ich als ganz kleines Kind die ganze Zeit in dieser Wirklichkeit gelebt hatte. Diese Rückbesinnung auf die Wirklichkeit erlebte ich nun immer häufiger, und es ging dabei immer nur um einfache Dinge, wirklich um ganz kleine, einfache Dinge, und nie dauerte es sehr lange. Aber das war es, wofür ich lebte.
Ich glaube, viele Menschen machen Erfahrungen, die ihre Identität, ihr ganzes Selbst ins Jetzt versetzen. Erfahrungen der Einheit mit der Erde. Ich weiß noch, daß ich einmal einen Mann mitten in der Nacht singen hörte. Alles schlief schon, und irgendwo weit weg sang er. Indianisches Singen – zeremonielles Singen. Und seine Stimme schien in die Erde einzudringen, sie zu erschüttern und dann hochzusteigen, bis sie in mir war.
Das war eine Erfahrung der Einheit. Ich habe schon die gleiche Erfahrung gemacht, wenn ich einen Wolf heulen hörte. Und wie indianischer Gesang hat auch das Lied der Wölfe keine Worte. Und das Gefühl, das ich dabei empfand, hat ebenfalls keine Worte.
Ich glaube, damals wurde mir dieser Unterschied so richtig bewußt – der Unterschied zwischen dem, was ich heute „Bullshit-Kreislauf“ oder „Film“ nenne, diese ganze abstrakte Welt, die sich die Leute die ganze Zeit aufbauen und zurechtbiegen -, zwischen dem also und der sich ereignenden oder fließenden Welt, die für mich die Wirklichkeit ist. Wie das nun zustande kam ... Vielleicht weiß ich nicht die richtigen Worte – ich bin nicht ganz sicher, weil ich glaube, daß ich schon immer solche Gefühle hatte, die mir aber nicht bewußt waren. Das ganze war jedenfalls eine Sache des Gefühls. Verstehst du, ich habe mich verändert, und bevor diese Veränderung mit mir passierte, mußte ich dauernd Entscheidungen treffen, mußte alle Größen gegeneinander abwägen, Vor- und Nachteile; Situationen mußten überdacht werden – ob es mit Geld zu tun hatte oder mit Jobs. Dieser ganze Zirkus. Die meiste Zeit war ich wie angebunden. Die meiste Zeit und Energie verbrauchte ich nur mit dem Versuch, zu Entscheidungen zu kommen, mit dem Versuch, zu entscheiden, was ich tun sollte, alles auszudiskutieren, zu zerstückeln, es mit anderen Leuten und in meinem eigenen Kopf durchzupauken. Meine Güte, was für ein brutaler, nervtötender Vorgang! Heute dagegen komme ich nur noch auf diesen Trip, wenn ich vergesse, daß ich all das ja wissen kann. Heute vertraue ich auf meine Gefühle. Der Fluß meiner Gefühle - das, was ich Energie nenne – wird mich immer dahin tragen, wo ich gerade sein muß, wird mich in all das einbeziehen, was dort gerade passiert. Um immer am richtigen Ort zu sein, um zu wissen, statt nur herumzuraten, brauche ich nichts weiter zu tun, als mich diesem Fluß zu überlassen. Wenn ich das vergesse, dann fangen die Spannungen und Angstgefühle an, die Anstrengungen, sich dem Fluß der Energie zu widersetzen. Und dann weiß ich: Du bist ja schon wieder dabei, es zu tun, statt einfach zu sein.
So lerne ich immer besser, mir meinen Weg durch den Tag zu erfühlen, statt ihn mit Berechnungen festzulegen. Und ich kriege mit, daß Sachen, die einfach so passieren, fast immer viel besser sind als etwas, was ich vielleicht geplant hätte. Das soll nun nicht heißen, daß ich meinen Kopf nicht mehr gebrauche; es bedeutet nur, daß mein Kopf langsam lernt, meine Gefühle zu unterstützen, statt sie zu unterdrücken. Vielleicht ist es das, worum es beim Glauben geht.
Verstehst du, um ein guter Spieler zu sein, ein Gewinner, muß man einseitig sein, verdreht, aus dem Gleichgewicht – eine Art Krüppel. Man muß für bestimmte Sachen sein und gegen andere, für bestimmte Leute und gegen andere. Die Guten und die Bösen. Deshalb nenne ich das Film. Alle erfolgreichen Wettspieler sind von einer Empfindung des Verlusts oder Mangels getrieben – Millionäre ebenso wie die armen Teufel. Dieses Gefühl läßt das Selbst zu seiner kleinsten, in sich verschlossenen, verängstigten und entfremdeten Gestalt zusammenschrumpfen. Ich selbst war jahrelang in diesem „Raum der Einsamkeit“, ganz in mich selbst eingeschnürt – das kleinste Paket der Welt! -, daher kenne ich dieses Gefühl durch und durch. Aber eines Tages war ich dann woanders. Die Spiele gingen weiter, der Film spulte sich immer noch ab, aber ich spielte nicht mehr darin mit. Der Ort, an den ich gelangt war, lag außerhalb all dieser wahnwitzigen Aktivität. Nicht von ihr getrennt, sondern um sie herum. Jede Standortbestimmung erfordert ein „Ich“ im Mittelpunkt. Und das Wesen der Spielwelt, der Filmwelt, besteht darin, daß sie sich allein um sich selbst dreht.
Vielleicht ist das eine Möglichkeit, in Worte zu fassen, was geschehen war. „Ich“ war da, aber es gab keinen Beobachter und keinen Beobachteten mehr, kein „Ich“ und „Du“, kein „Selbst“ und „Nichtselbst“, keine getrennten und isolierten Individuen. Es gab nur eine umfassende Ganzheit, die nichts ausließ. All diese Millionen einander entgegengesetzter Stücke des Films flossen irgendwie in einer Einheit zusammen, und es gab nichts, was draußen blieb. Alles war im Fluß. Es gab zwar den Anschein von Stabilität, doch war nichts statisch. Alles lebte. Es gab nichts Totes. Reine Lebensenergie, die Berge hinauf- und herunterströmte, sich zu Gipfeln türmte, sich in Mulden sammelte – Wolken und Regen, Berge und Täler, Leidenschaft und tiefe Ruhe. Und ohne Namen. In diesem Strom gab es keine Einteilungen, keine Klassen, keine Rassen, nur das kristallklare Gefühl des Wissens. Und sobald ich versuchte, dieses Gefühl auf irgendeine Weise in Worte zu fassen, sobald ich versuchte, es mit Worten wie „Realität“ oder „Totalität“ zu beschreiben, dann verließ ich den Strom, war draußen, als ob ich – knips! – einen Schalter betätigt hätte. Aber solange ich in diesem Strom blieb, gab es nichts, was ich nicht wußte. Das war das Gefühl - ich wußte alles, nichts davon lag in Vergangenheit oder Zukunft; alles stand direkt vor meinen Augen. Aber ich konnte auf nichts ein Etikett kleben, nicht auf ein einziges Ding. Es gab weder Worte noch Irrtümer – Fehler waren ausgeschlossen. Alles war genau richtig. Vollkommen. Und wunderschön.
Nach dieser Erfahrung erinnerte ich mich an Megwetabejic. So sagen es die Leute: „Megwetabejic“ – es gibt nur ein Wesen. Es gibt nur ein Wesen: Jemnitow, den Großen Geist. Das scheint in jedem Stamm, in jeder Indianersprache so zu sein. Ich hatte eigentlich nie richtig verstanden, was die Leute damit meinten – es hatte mich immer verwirrt. Aber nun wußte ich, es bedeutete: „Es ist das, was du auch selbst bist.“ Es gibt nur eine Kraft, die allumfassende Person, das Selbst. Ich erkannte die Bedeutung: Der Geist dieses „Selbst“ – der Große Geist – ist groß genug, um alle Einzelwesen und alle Dinge in einer Einheit zu umfassen. Groß genug, um seine eigene Totalität zu erkennen und anzuerkennen.
Und so kam ich endlich zu der Erkenntnis, wer ich war: Nicht nur ein Wilf Peletier ohne feste Norm und Zuordnung, sondern auch einer, der untrennbar mit allen anderen Menschen und Dingen verbunden war. Als ich dann erst einmal wußte, wer ich war, begannen viele Dinge ziemlich merkwürdig auszusehen. Zum Beispiel Demonstrationen. Früher war ich oft für meine Rechte demonstrieren gegangen. Ich hatte meine Rechte nämlich von mir abgelöst und nach außen in die Filmwelt getragen, wo ich irgendwelche „Regisseure“ damit herumspielen ließ. Nun erkannte ich, daß sie mir gehörten. Und was immer sie in meinen Augen waren – auch die Verantwortung dafür -, all das gehörte zu mir; so sammelte ich sie also von dort wieder ein, wo sie hingeraten waren, irgendwo da draußen, und brachte sie hierher zurück, wohin sie eigentlich gehörten. – Danach hatte ich keine Probleme mehr, ich konnte nicht mehr marschieren und die Regierung oder sonst jemand um irgend etwas bitten, denn die hatten es einfach nicht; ich hatte es. Deshalb habe ich keinen Grund mehr zu protestieren.
Ich holte auch die Religion von da wieder weg, wo sie fälschlicherweise hingeraten war, irgendwo da draußen, und ich brachte sie dahin zurück, wo sie hingehörte. Wo sie lebt und arbeitet, wie mein Herz in jeder Sekunde eines jeden Tages lebt und arbeitet – und nicht nur an Sonntagen. Deshalb hat es für mich keinen Sinn mehr, zur Kirche zu gehen. Dasselbe tat ich mit dem Lernen, der Gerechtigkeit, Gesundheit, der Ehe und all den anderen Gefühlen und Funktionen eines Menschen, die diesem Menschen ganz allein gehören. Ich nahm alle diese Dinge zurück, und ich fühlte mich viel besser, fühlte mich fast wieder ganz.
Dann sah ich mich um. Ich sah Rathäuser, Gerichts-, Parlamentsgebäude, Kirchen, Schulen und Universitäten zu Hunderten und Tausenden. Ich sah Systeme – Systeme, das Land zu verwalten, die Luft und das Wasser; Systeme zur Verwaltung menschlichen Verhaltens; Systeme zur Verwaltung der Religion; Systeme, das Lernen zu verwalten; Systeme, die Nahrung, das Dach über dem Kopf und die Kleidung zu verwalten: ein Riesenkomplex von sorgfältig durchorganisierten Systemen! Ich sah Millionen von Menschen arbeiten – nicht für sich selbst, sondern für andere. Ich sah Millionen von Leuten, die nicht taten, was sie selbst tun wollten, sondern das, was jemand anderer von ihnen verlangte. Mit deprimierender Deutlichkeit sah ich Menschen, die ihre ureigenste Menschlichkeit veräußert, institutionalisiert, ja sogar zu normen versucht hatten. Ich sah eine ganze Nation, die den Gang des Lebens aus den Augen verloren und an seiner Stelle ein mechanisches Monster erreichtet hatte, das nun den größten Teil der schweren Arbeit verrichtet, den Menschen das Wasser trägt, ihre Nahrung herbeischafft, ihre Kinder erzieht, ihnen die Entscheidungen abnimmt, ihre Gebete spricht, sie transportiert, „informiert“, unterhält und die Menschen, denen es dient, absolut beherrscht. Ich sah auch, wie dieses Monster, unfähig, sich selbst im Zaum zu halten, durchdrehte, die Luft mit Unrat füllte, Abfall und Scheiße in die Flüsse, Seen und Meere warf. All dies sah ich, und ich sah die Menschen, wie sie zu Millionen in den Metropolen zusammengepfercht waren, wie sie Seite an Seite in Städten, Dörfern und Siedlungen lebten. Aber ich sah keine einzige menschliche Gemeinschaft.
Dennoch wußte ich von einigen. In Amerika waren ein paar echte Gemeinschaften übriggeblieben, alle bei den Indianern oder Eskimos. Eine Gemeinschaft ist von außen unsichtbar – nichts weiter als eine Ansammlung von Menschen. Doch innen ist sie ein lebendiger Organismus, der sich selbst verwaltet. Weder konstruiert noch geplant; er entwickelt sich einfach – so eine Art Gewächs, das je nach Klima blüht oder zusammenschrumpelt. Eine Gemeinschaft hat keine Institutionen, keine Ämter und äußere Regierung, denn ihre Aktivitäten sind nicht aufgesplittert. Es gibt da nur einen einzigen Weg zu leben, und alle Tätigkeiten sind wie selbstverständlich in diesem Strom, all die Dinge, die für den Menschen lebensnotwendig sind. In den Gemeinschaften, an die ich dachte, wußten die Leute nichts von Gerechtigkeit, Religion, Bildung, Gleichheit, Kultur oder irgendwelchen anderen dieser großen institutionalisierten Konzepte. Ihre Sprache hat für diese Art Dinge keine Worte. Die Leute selbst sind jedoch gerecht, gebildet, religiös und gleich. Diese Leute wissen nicht einmal, daß sie eine Gemeinschaft sind. Das Wort hat keine Bedeutung für sie.
Etwas anderes, wofür sie kein Bewußtsein und sicherlich kein Wort haben – was ich jedoch oft beobachten konnte – ist etwas, das ich heute „Gemeinschaftsbewußtsein“ nenne. Ich bin nicht sicher, ob ich es beschreiben kann – außer indem ich sage, daß es „gesunder Menschenverstand“ ist, so eine Art von gemeinsamem Bewußtsein, das von jedem einzelnen in dieser Gemeinschaft geteilt und genutzt wird. Vielleicht ist das beste Wort dafür „Vertrauen“ – eine Art von Vertrauen, das Menschen außerhalb dieser Gemeinschaft sich kaum vorstellen und die Leute innerhalb nicht benennen können. Ich glaube, daß es sehr eng mit der Art von Bewußtsein verwandt ist, das man in einem Schwarm von Flußuferläufern beobachten kann. Fünfzig oder sechzig einzelne Vögel sind in einem dichten Schwarm zusammen; sie benehmen sich, als wären sie verrückt geworden, flitzen dahin und dorthin, tauchen durch die Lüfte und steigen wieder auf, sausen in engen Kreisen herum – und dieser Schwarm bleibt tatsächlich zusammen. Jeder einzelne Vogel handelt, fliegt und bewegt sich wie jeder andere. Der Schwarm verhält sich als Einheit. Wie ein einziger Organismus. Das gleiche Phänomen kann man auch bei Fischschwärmen und bei einigen Insektenarten beobachten.
Nun, ich weiß nicht, wie diese Tiere das machen, außer, daß sie es nicht selbst tun. „Es“ tut es. Und ich glaube, das gleiche, die gleiche Sensibilität, die Wahrheit, oder was immer, ist in Stammesgemeinschaften ausgeprägt. Nur ein Beispiel: Die Arbeit wird geteilt, und auch der Ertrag wird geteilt. Die Menschen überleben als Gruppe, nicht als Einzelwesen. „Wettbewerb“ bedeutet ihnen nichts. Genausowenig aber bedeutet ihnen „Zusammenarbeit“ – von diesen Begriffen haben sie noch nie etwas gehört. Was sie tun, passiert einfach, fließt einfach dahin. Auch Organisation bedeutet ihnen nichts; sie brauchen das nicht, denn die Gemeinschaft ist organisch. Wann immer Menschen auf die Idee kommen zu organisieren, dann deshalb, weil ihre Gesellschaft im Normalzustand unorganisiert ist, die Dinge kommen nicht zusammen. Dabei glaube ich gar nicht, daß zum Beispiel die westeuropäische Art der Organisation Dinge in irgendeiner Weise besser zusammenbringt – nämlich unter dem Gesichtspunkt menschlicher Beziehungen. Soweit ich das beurteilen kann, kommt normalerweise genau das Gegenteil dabei heraus: Man bringt zwar etwas fertig, die Menschen jedoch werden einander entfremdet.
Nehmen wir einmal an, die Ratshalle einer indianischen Gemeinschaft braucht ein neues Dach – das wäre vielleicht ein gutes Beispiel. Nun, alle wissen davon. Die ganze Zeit hatte es schon hier und da durchgeregnet, und es wird immer schlimmer. Die Leute haben wohl auch schon darüber gesprochen und gesagt: „Ich glaube, das alte Gemäuer braucht ein neues Dach.“ Und dann ist da eines Morgens auf einmal ein Typ auf dem Dach, der die alten Schindeln herunterreißt, und unten auf der Erde liegen mehrere Haufen von neuen, handgemachten Holzschindeln – wahrscheinich nicht genug, um die ganze Arbeit fertig zu bekommen, aber genug, um erst einmal anzufangen.
Nach einiger Zeit kommt dann ein anderer Typ vorbei und sieht den ersten auf dem Dach. Er geht zu ihm rüber, aber er sagt nicht etwa: „Was machst du denn da oben?“, weil das ja offensichtlich ist. Er würde statt dessen sagen: „Wie sieht’s denn aus da oben? Ganz schön verlottert, was?“ Irgend etwas in der Richtung. Und dann zieht er weiter, doch schon bald ist er mit einem Hammer oder einer Schindelaxt zurück und vielleicht ein paar Schindelnägeln oder ein paar Rollen Dachpappe. Am Nachmittag arbeitet schon ein ganzer Trupp auf dem Dach, unten hat sich ein Stoß von Material auf der Erde angesammelt, Kinder nehmen die alten Dachziegel fort – nehmen sie zum Anfeuern mit nach Hause -, Hunde bellen, Frauen bringen kalte Limonade und belegte Brote. Die ganze Gemeinschaft ist dabei, und es gibt eine Menge Spaß und Gelächter. Vielleicht taucht am nächsten Tag ein anderer Typ mit noch mehr Dachziegeln auf. Nach zwei oder drei Tagen ist die ganze Arbeit fertig, und alles findet darin seinen Abschluß, daß man eine Riesenfete in der „neuen“ Ratshalle abhält. Und das alles nur, weil ein Typ sich dazu entschloß, die Halle neu zu decken.
Wer war nun dieser Typ? War er ein einzelnes, isoliertes Individuum? Oder war er die ganze Gemeinschaft? Wie kann man das sagen? Keine Versammlung ist einberufen worden, keine Komitees wurden gebildet, keine finanziellen Mittel erhoben. Es gab keine Streitereien darüber, ob das Dach mit Aluminium, Kunststoff, Blech oder Ziegeln gedeckt werden sollte, was das Billigste wäre, was am längsten halten würde und so weiter. Es gab keinen Meister dabei, niemand wurde eingestellt, und kein Mensch stellte das Recht dieses Typen in Frage, das alte Dach herunterzureißen. Und dennoch muß eine gewisse Form von „Organisation“ geherrscht haben – weil nämlich die Arbeit fertig wurde. Und sie wurde viel schneller fertig, als wenn man richtige Dachdecker eingestellt hätte. Und vor allem: Es war keine Arbeit, es war Spaß!
In indianischen Gemeinschaften gab es immer, auf jeden Fall in der Vergangenheit, so etwas, was man einen „Fluß“ der öffentlichen Angelegenheiten nennen könnte. Jedermann – Großväter, Großmütter, Eltern, Kinder, einfach jeder – war Teil des Stromes. Und Führerschaft konnte es automatisch nur in gleicher Richtung mit dem Strom geben. Potentiell lag sie in jedem einzelnen Mitglied der Gemeinschaft. So hatte es nie eine Führerschaft im Sinn der Westeuropäer gegeben, genauso wenig wie ein Fluß ans Meer „geführt“ oder dem Wind befohlen wird, von Norden, Süden oder von woanders her zu wehen. Die Bewältigung der öffentlichen Aufgaben war nicht aufgesplittert, soviel ist sicher. Natürlich, der Rat versammelte sich, aber ich vermute, diese Treffen waren eher religiöse Rituale als Diskussionen über öffentliche Angelegenheiten. Ich habe den Verdacht, daß der Häuptlingsrat jede notwendige Entscheidung ohne große Diskussionen fällte. Wahrscheinlich saßen sie schweigend da, rauchten in aller Ruhe, bis jeder Mann wußte, was zu tun war. Und dieses Wissen war in jedem Mann dasselbe.
Aber die kleinen Dinge, die täglichen Verrichtungen, die das Leben dieser Gemeinschaften erhielten, wurden niemals bewußt entschieden. Diese Dinge geschahen einfach durch jeden einzelnen in der Gemeinschaft, der seinen eigenen Sachen nachging, seine eigenen Angelegenheiten ohne Störung von außen regelte und seinerseits auch die anderen nicht störte; man achtete darauf, daß alle die gleiche Freiheit besaßen. Sicher, es stimmt auch, daß manchmal bestimmte Persönlichkeiten ausgewählt wurden, die man bat, etwas, was man in der westlichen Welt eine Führerposition nennen würde, zu übernehmen. Das könnte zum Beispiel ein weiser Mann gewesen sein, wenn in der Gemeinschaft das Bedürfnis nach einer Vision oder einer Entscheidung bestand. Oder ein großer Jäger, wenn die Gemeinschaft Hunger litt. Oder eine Kräutersammlerin – eine Frau in der Gemeinschaft, die alle Kräuter kannte -, falls jemand krank war. Doch für gewöhnlich bestand keine Notwendigkeit, diese Leute besonders dazu aufzufordern, ihren Angelegenheiten nachzugehen. Die Mittel sämtlicher Leute in der Gemeinschaft waren für jedermann verfügbar, und wenn eine besondere Not herrschte, traten die vor, die am besten helfen konnten, ohne darum gebeten worden zu sein.
Ratsversammlungen von heute verlaufen mehr nach dem Vorbild weißer Sitzungen. Aber in zahlreichen indianischen Gemeinschaften erinnert noch viel an das Gemeinschaftsbewußtsein aus alter Zeit, wenn Häuptling und Rat zusammenkommen, obwohl die Art und Weise der Sitzungen sich geändert hat und man inzwischen dazu gezwungen wurde, die Formen der parlamentarischen Verfahrensweise zu übernehmen. Man wird jedoch wahrscheinlich nicht über die Tagesordnung reden, über Punkte auf einer Themenliste, obwohl es da eine gibt, die sogar säuberlich mit der Maschine geschrieben ist. Man wird über die Vorgänge in der Gemeinschaft sprechen. Dabei kommt, insgesamt gesehen, sowieso dasselbe heraus, und alle wichtigen Punkte werden im Verlaufe der Sitzung abgehandelt. Und man wird indianisch sprechen. Nach einiger Zeit wird der Häuptling vielleicht um eine Abstimmung über diesen oder jenen Punkt auf der Themenliste bitten. Einige Dinge werden einstimmig und ohne weitere Diskussion verabschiedet. Zugleich könnte der Häuptling jedoch bemerkt haben, daß keine volle Zustimmung bei einem der übrigen Tagesordnungspunkte herrscht. Vielleicht ist da nur ein Mann, der eine andere Meinung hat als der Rest, oder vielleicht zwei. Der Häuptling wird jedoch keine Abstimmung verlangen und die Minderheit überstimmen lassen. O nein, so demokratisch ist man nun auch wieder nicht. Da wird dann jemand sagen: „Pkawn do showam don“ (Du siehst es anders als ich, und ich sehe es anders als du). Der Häuptling wird dann antworten: „Nahow aneshgege anendomun“ (Na gut, sprich darüber). Dann fängt der Mann an und erklärt seinen Standpunkt. Und der kommt aus seiner eigenen Erfahrung, nie aus der Theorie. Und alle werden sagen: „Geget“ (Ja, ja, jetzt haben wir zwei Seiten, die Sache zu betrachten). Natürlich ist das besser, befriedigender als nur eine Ansicht. Dann wird jemand anderer erzählen, wie er zu der Sache steht: „Mesuswe“ (Nun, das sind schon drei). Und dann noch jemand: „Das sind vier.“ Doch sie müssen immer noch zu einer Entscheidung kommen, und so sagen sie: „Also los, versuchen wir erst mal das hier!“ Und so nehmen sie den Vorschlag dieses Typen und wenden ihn, so gut es geht, auf das besprochene Problem an, und vielleicht sieht das schon ganz ordentlich aus. Aber noch immer sind sie sich nicht sicher, weil sie jeden Vorschlag eines jeden Mannes als gleich berechtigt ansehen: „Also laßt uns auch das noch versuchen.“
Und sie versuchen es. Alle zusammen. Und es spielt keine Rolle, wie lange das dauert – es gibt keine Eile. Aber so machen sie es: verwerfen einen Gesichtspunkt nach dem anderen – wobei alle einverstanden sind – bis sie nur noch einen übrig haben. Und der vereint gewöhnlich die besten Teile aller Vorschläge. Und der wird dann einstimmig angenommen. Auch das ist eine Gruppensache, genau wie bei diesen Strandläufern. Instinktiv wird ein Übereinkommen erreicht. Niemand wird von der Masse erdrückt. Es gibt keine Zusammenstöße. Die ganze Gruppe bewegt sich als Einheit, unterschiedliche Ansichten werden geschätzt und dazu verwendet, der Gemeinschaft auf den gewünschten Weg zu helfen. Das ist ein Grundmuster zum Überleben. Ohne Einverständnis ist die Gemeinschaft tot.
Nach meiner Erfahrung mit indianischen Entscheidungsprozessen ist das Wichtige dabei, den anderen Typen zu hören – Respekt zu haben für die Art, wie er die Sache sieht. Der weiße Weg, Entscheidungen zu fällen, scheint das genaue Gegenteil zu sein. Bei denen ist es wichtig, die „Opposition“ niederzuschlagen – den eigenen Weg durchzuboxen, egal um welchen Preis. Bei weißen Versammlungen habe ich schon so manche langweilige Stunde zugebracht, indem ich einem Haufen von Schlitzohren und Verkäufern zugehört habe, die alle versuchten, ihren Punkt an den Mann zu bringen. Wohin man in der weißen Gesellschaft auch geht – in Gerichtssäle, zu gesetzgebenden Versammlungen, ins Parlament, zu jeder Art von Versammlung –, was man zu sehen und zu hören bekommt, ist ein Kampf – ein Krieg – mit Worten. „Übereinstimmung“ wird durch Entzweiung erreicht.
Eigentlich ist das jedoch gar keine Übereinkunft, es ist ein Triumph der Mehrheit. Deswegen glaube ich, daß weiße Menschen ihre Sachen niemals auf die Reihe kriegen können. Immer sind sie in Hunderte von Fraktionen zersplittert. Ihr demokratischer Entscheidungsprozeß hält sie in diesem Zustand. Jedesmal, wenn eine Übereinkunft erreicht ist, wird ein großer Teil der Bevölkerung – die Minderheit – unterdrückt. Besiegt. Deshalb gibt es nie irgendeine wirkliche Übereinkunft. Dafür aber eine verdammte Menge Bitterkeit und Haß.
In der weißen Gesellschaft ist die Politik ein Spiel, das von gewählten Repräsentanten gespielt wird; die Wähler sind mehr oder weniger nur Zuschauer, die den Wettkampf beobachten und dieser oder jener Seite zujubeln. Aber sie sind keine Teilnehmer. Politik ist die Erledigung oder Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, und in der weißen Gesellschaft sind Politiker Leute, die Dinge für das Volk zurechtdeichseln, die Dinge für das Volk tun. Aber ich glaube, öfter noch tun sie dem Volk Dinge an. Auf jeden Fall muß sich das Volk danach richten.
Als ich neu in die weiße Gesellschaft kam, fiel mir der Gebrauch der Pronomen sehr auf. Ich hatte mein Lebtag lang englisch gesprochen, aber nie gemerkt, wie diese Pronomen – ich, er, sie, es, wir, sie – alle und alles so völlig voneinander trennten und sogar auf einen grundlegenden Zwiespalt schließen ließen. So kam es mir jedenfalls vor. In meiner eigenen Sprache wird nicht zwischen „er“ und „sie“ unerschieden. „Wir“ wird statt „ich“ gebraucht. Wenn ich als Indianer in meiner eigenen Gemeinschaft also „wir“ sage, dann spreche ich von mir. Ich spreche im Sinn dieses Fischschwarms oder dieses Schwarms von Flußuferläufern, obwohl vielleicht in diesem bestimmten Zeit- oder Handlungszusammenhang nicht jede einzelne Person in der Gemeinschaft eingeschlossen sein mag. Auch spreche ich eher aus meiner Erfahrung des Lebens als einem Strom, einem ununterbrochenen Fluß von Geschehnissen, heraus, als aus meiner Erfahrung des Lebens als einer Serie von isolierten Ereignissen. All das liegt einfach da, liegt stillschweigend schon in der Sprache. Wenn ich über Ereignisse sprechen möchte, dann merke ich, wie ich ganz automatisch Englisch spreche – oder wenn ich über Organisation, Technologie oder Geschäft reden möchte. Englisch ist die bessere Sprache, um Dinge auseinanderzunehmen. Anishinabe ist am besten, um Dinge zusammenzusetzen. Das ist es vielleicht. Wenn ich mal wütend werde und über etwas streiten möchte – ein Wortgefecht haben möchte -, dann verfalle ich ins Englische. Ganz einfach. Ohne je darüber nachzudenken. Und man wird diesen Wechsel überall hören, wenn man darauf achtet. Man wird ihn in Kneipen oder Bars hören, und meistens dann, wenn die Leute getrunken haben.
Ich finde, es ist sehr schwierig zu erklären, aber ich glaube, diese Unterschiede in der Sprache bedeuten, daß die Leute, die sie gebrauchen, sich unterschiedlich zueinander verhalten. Ich glaube, ich beherrsche die englische Sprache ganz gut, aber immer noch kann ich sie nicht sagen lassen, was ich meine - besonders, wenn ich etwas über indianisches Verhalten oder indianische Lebensanschauung zu sagen versuche. Ich komme an den Punkt, wo ich in Englisch einfach nicht mehr weiterkomme, und alles was ich dann sagen kann, ist: „Es liegt an der Sprache.“ Und das hat gar nicht so viel damit zu tun, daß die englischen Worte anders sind, sondern damit, daß ich nicht Englisch reden kann, ohne in Erklärungen hineinzugeraten. Es zwingt mich zu erklären – schickt mich auf einen richtigen Erklär-Trip. Wenn ich Anishinabe spreche, dann rede ich einfach. Die Bedeutung ist einfach da – in den Worten, ja, aber genauso im Schweigen. In den Pausen zwischen den Worten, und es gibt eine ganze Sinnebene, aus der sich der Zuhörer aussuchen kann, was er möchte – er kann sich seine eigene „Erklärung“ schaffen. Die Worte allein überreden nicht mehr, als Musik überredet.
So habe ich viel über mich selbst, über meine Leute, aber auch über die Weißen gelernt, indem ich einfach zwei Sprachen kann und benütze. Eine Sprache – jede Sprache – wächst aus der Erfahrung der Menschen, die sie gebrauchen. So ist Englisch (ich vermute, wie alle westeuropäischen Sprachen) eine Sprache der Organisation, der Anweisung, der Erklärung, der Klassifizierung, der Analyse, der Kalkulation – und vor allem des Streits. Sie ist entworfen, um mit Bruchstücken umzugehen - mit Einzelheiten und Vorkommnissen. Aber das ist eine zweischneidige Sache. Die Sprache wird von den Menschen geprägt, die sie gebrauchen. Das ist ganz klar. Aber auch Menschen werden durch die Sprache, die sie benutzen, geprägt. Und das ist nicht so offensichtlich.
Ich begann das schon in einem sehr jungen Alter zu merken – als ich zur Schule ging und herausfand, daß es in der Erziehung nur um Teile und Bruchstücke ging und darum, sie wieder zusammenzufügen, sie zu verschiedenen Mustern zu „organisieren“. Und das war – ganz wörtlich – eine zerschmetternde Erfahrung.
In der alten Zeit schnitt man Indianerkindern nicht mit sechs Jahren von der Gemeinschaft ab. Ihre Welt wurde nicht systematisch zu Millionen von Bruchstücken zerschlagen. Sie wurden nicht dazu gezwungen, sich selbst wieder zu Teilen und Komponenten aufzubauen, um in diese Puzzlewelt zu passen. Heutzutage werden fast alle Indianerkinder der weißen Konditionierung ausgesetzt – dem offiziellen Angleichungsprogramm. Sie haben keine Wahl dabei, denn sie werden mit sechs Jahren gewaltsam hineingepreßt. Aber ich glaube an den Instinkt meines Volkes. Soweit ich gesehen habe, ist es immer noch sehr lebendig und in zunehmendem Maße aktiv. Fast fünfhundert Jahre lang hat mein Volk den Anstrengungen der Weißen, es zu organisieren, Widerstand geleistet, ganze Stämme sind bei diesem Widerstand ausgerottet worden, deswegen glaube ich kaum, daß sie gerade jetzt kapitulieren werden. Sie werden es schon durchstehen. Und ich nehme an, die meisten dieser Kinder werden das Establishment schließlich zurückweisen – genau wie ich es getan habe. Genau wie fast alle Indianer es immer getan haben. Ich weiß nicht, wohin sie damit kommen werden, und ich weiß nicht, wohin ich selbst komme. Aber ich sehe nun eine Alternative, die ich früher nicht gesehen habe. Und alle haben diese Alternative, obwohl einige sie noch nicht wahrnehmen.
Zwei Welten: eine, mit der ich auszukommen versuche, und die andere, in der ich gerne leben würde. Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussehen wird, weil ich nach den weißen Maßstäben nicht mehr völlig zuverlässig bin. Aber ich werde freier und freier. Ich komme dorthin zurück, wo ich als Kind war: zu dem, was man damals einen Indianer nannte: unzuverlässig, einer, auf den man sich nicht verlassen kann, verantwortungslos, ein Tunichtgut und Schnorrer. Ich habe lange Haare, und das heißt wahrscheinlich, daß ich ebenso Hippie wie Indianer bin. Und ich weiß nicht, was es noch alles bedeutet – also weißt du, ich muß doch schmutzig sein und stinke wahrscheinlich. Das ist es, was mit mir geschieht, und das ist es, wohin ich gerate. Ich kann nicht im Strom und im Film sein, nicht zugleich jedenfalls. Und all diese Gefühle, die ich in dem Strom, und nur da, finde, sind wunderschön. Ich will dieses Gefühl von Unverantwortlichkeit. Es ist das schönste Gefühl, das es gibt.
Aber was auch mit mir passiert, ich werde eine Menge Gesellschaft haben, Indianer und Weiße; denn die Kinder steigen zu Tausenden aus, heraus aus den Spielen, heraus aus dem Organisationsfilm, und bei denen dauert es nicht so lange wie bei mir. Sie müssen noch eine Menge lernen, aber sie verschwenden keine Zeit mehr damit, zur Schule zu gehen, sich erziehen zu lassen. Sie lernen. Sie kehren zum Land zurück, immer mehr von ihnen. Und das ist der einzige echte Sitz der Weisheit, den es je gegeben hat, Sie werden alles, was sie wissen müssen, vom Land lernen, alles, was es überhaupt zu wissen gibt. Wenn sie lange genug dort bleiben, werden sie lernen, daß sie das Land sind.
Ich vermute, das wird wie eine ganz merkwürdige Feststellung klingen – besonders für jemanden, der in der Stadt geboren und aufgezogen worden ist, der schon so lange Zeit auf Zement und Asphalt gelaufen ist, da er ganz vergessen hat, daß es überhaupt noch so etwas wie Land gibt. Aber diese frühen Entdecker, weißt du, die diese Insel zufällig „entdeckten“ – nach was suchten die? Land? Und diese Einwanderer, die nachfolgten, Millionen von ihnen – nach was suchten die? Land? Und welche Einstellung hatten die zu Amerika? Wie viele von ihnen sagten: „Oh, ich bin nicht für immer hier. Ich bleibe nur eine Weile – lang genug, um ein paar Mäuse zu machen, dann gehe ich zurück. Zurück ins alte Land. Zurück nach Hause.“ Ich wette, wenn diese Astronauten, die da auf dem Mond rumlaufen, bei ihrer Rückkehr auf die Erde runterplatschen, dann weinen die, und nicht aus Erleichterung, sondern aus Freude, wieder zu Hause zu sein.
Was bedeutet das? Was bedeutet diese „Zu-Hause-Geschichte“? Ist es nicht das, was du bist? Bedeutet es nicht das? All diese Tausende von Indianern, die bei jeder Gelegenheit in ihr Reservat zurückkehren, selbst für ein Wochenende, selbst für einen Tag – weißt du, was sie sagen? „Hier bin ich gerne.“ Das ist es, was sie sagen, aber sie fühlen dabei: „Das hier bin ich.“
Es dauert lange, sich nicht wie ein Fremder zu fühlen, lange, sich zu Hause zu fühlen, lange zu suchen und zu entdecken, wer man ist. Aber wenn du diese Entdeckung bis zu Ende führst, dann bringt es dich über die Rasse, über die Hautfarbe, über Klassen und jede Art von Kategorie hinaus, und du stellst fest, daß du zur Menschheit gehörst. Und das ist es, was du bist. Wenn du mit dieser Sache bis zu Ende weitermachst, führt sie dich über Besitz, über Holz, Fisch, Felle, Metalle, Öl, über „Bodenschätze“, Industrie und kommerzielle Nahrungsmittelproduktion hinaus an einen Punkt, wo du herausfindest, daß du zum Land gehörst. Und das ist es, was du bist. Und wenn du das erst einmal bist, dann gibt es kein fremdes Land mehr. Wo immer du bist, ist dein Zuhause. Und die Erde ist das Paradies, und wo du deinen Fuß auch hinsetzt, ist heiliges Land.
Ich glaube, die Menschen werden ihren Weg aus dem Irrgarten einer jeden zersetzenden Institution finden, heraus auch aus der letzten – heraus und wieder ins Freie. Schon jetzt finden sie ihren Weg aus den Städten heraus. Wieder entdecken sie das Land. Die Städte, wie wir sie kennen, werden als leere Monumente des Todes stehenbleiben. Aber die Menschen, die das Leben ehren, werden leben.
Die Zäune im Land werden verrotten und nach und nach zusammenfallen, und niemand wird sie wieder aufrichten. Und die Menschen werden einzeln und frei wie Bäume dastehen, damit sie zusammen sein können.
Quelle: Sabine Kückelmann, Look into the Heart – Leben in zwei Welten. Art Stock Verlag Kehl, 1995
Vielen Dank, Silverwings! Mein Herz ist gerade ganz weit aufgegangen beim Lesen!
Ich WEISS das intuitiv schon lange und sehne mich so sehr danach, habe es aber noch nie so klar formulieren können, damit Menschen in der hiesigen "Filmrealität" verstehen können, was ich meine!
Das ist es, was ich gerade voller Erstaunen anfange, zu lernen und zu leben: keine Rolle mehr zu spielen, einfach zu sein, fließend zu sein. Manchmal kommt es mir vor, als würde ich von außen einem Schauspiel zuzusehen, das mich eigentlich nur perifer interessiert. Und wenn ich zurück ins Drama gehe, merke ich, wie weh mir das tut. Ich bekomme Beklemmungen, Angst und Herzrasen.
Der Text wirkt bei mir auch noch nach. Im Moment bin ich gerne und fast nur alleine, komme aber mit Menschen gut zurecht wenn es denn sein muss. (Finanziell usw.) Bisher lebten wir alle in Zwangsgemeinschaften, in denen das Ego uns alle trennte und wir Wege finden mussten uns gegenseitig zu sozialisieren, damit das Schlimmste verhindert wurde. Ich träume auch von der neuen Erde und der Wiederkehr der Herzensgemeinschaft, in der wir im Herzen alle miteinander verbunden sind, keiner dem anderen mehr seinen Willen aufzwingt und in der wir alle wieder leben können wie die Stämme der Amerikanischen Ureinwohner, zu denen ich mich immer sehr hingezogen fühlte. Im Moment fühle ich mich auf meiner Reise zwischen den Welten, nicht mehr in der alten Welt, aber auch noch nicht vollständig in der neuen Welt angekommen. Meine Seele und meine Gedanken sind schon auf der neuen Erde, mein Materie-Körper noch nicht. Aber bald. Viele liebe Grüße von
Liebe Charly, ich fühle es genau so, wie Du es beschreibst, keinen richtigen Bezug mehr zur alten Welt und in der neuen noch nicht richtig angekommen. Bin mal gespannt was wir noch alles in diese Richtung erschaffen werden.
@ Silverwings Auch von mir ein herzliches Dankeschön
Zitat von ABCharlyIch träume auch von der neuen Erde und der Wiederkehr der Herzensgemeinschaft, in der wir im Herzen alle miteinander verbunden sind, keiner dem anderen mehr seinen Willen aufzwingt und in der wir alle wieder leben können
Ja, genau davon träume ich auch, und ich glaube, auch viele andere - nur daß wir noch nicht so ganz wissen, wie wir es umsetzen können.
Es freut mich sehr, daß der Text bei euch so viel Resonanz findet ... bin letztens über das Buch gestolpert, und da fiel mir ein, daß ich den doch schon mal in den Computer getippt hab und daß er ganz gut hierher passen würde. Muß wohl Führung gewesen sein.
Danke, Kai-Ra, für das wunderbare Indianerbild! :
Jaro, wenn du schon so gelebt hast und limmer noch lebst, würdest du gerne ein bißchen von deinen Erfahrungen erzählen? Ich würd das super spannend finden. Nur wenn du magst natürlich.
Zitat von Wilfred PeletierUnd die Menschen werden einzeln und frei wie Bäume dastehen, damit sie zusammen sein können.
Dazu fiel mir noch das berühmte Zitat von Nazim Hikmet ein, aus dem Gedicht "Die Einladung":
Leben Einzeln und frei Wie ein Baum Und brüderlich Wie ein Wald Ist unsere Sehnsucht.
Ich hatte eben mit einer Freundin darüber gesprochen, ob dies wohl noch zu unseren Lebzeiten zu erreichen ist. Sie sagte dazu, Du musst einfach nur anfangen es zu tun, dann werden die anderen Menschen sehen wie es funktioniert. Darauf hin viel mir ein, dass ich immer schon auf meine Mitmenschen geachtet habe. Als Beispiel: Ich ging durch unsere Stadt und mußte eine Straße überqueren, neben mir stand eine ältere Dame total verängstlich schaute sie sich um, weil viele Autos vorbeifuhren und das Überqueren schwierig war. Ohne zu überlegen hakte ich mich bei ihr ein und fragte sie ob ich ihr helfen könnte, sie strahlte mich voller Dankbarkeit an. Ein anderes Mal hatte ich eine Parkkarte, die noch eine Stunde gültig war, ein Mann kam der sich gerade eine kaufen wollte, ich fragte ihn ob er meine wollte, er schaute mich total überrascht an und meinte, das so etwas noch in der heutigen Zeit vorkommt wäre ja selten und bedankte sich dafür. Ich möchte nicht warten bis.....ich möchte es von ganzem Herzen leben.
JAAAA, genau so ist das, liebe Nalija, und es ist ansteckend! Wenn wir es einfach leben, aus dem Herzen, völlig frei, hier sein, jeder so weit und so viel wie er bereits kann, egal ob nur einen Augenblick am Tag, oder bereits mehrere Stunden, völlig egal, dann sind wir einfach Beispiel. Einfach so, einfach weil wir so da sind, wie wir sind. Damit berühren wir alles in unserer Umgebung, und die Menschen, die mit uns zu tun haben, werden davon angesteckt. Manche wehren sich beharrlich und lange, aber früher oder später erwischt es auch sie (Du siehst das an diesem seeligen Grinsen und dem Leuchten in den Augen...) Wir verändern die Welt, einfach indem wir da sind, so wie wir sind.